IX Internationales Festival der Straßenkünstler - KULTURVERBINDER
2 - 5 JULI, 2008 - SZCZECIN
Es gibt unterschiedliche Reisen: einige sind waghalsig, provozieren, erobern mutig Orte und Landschaften, andere sind vorsichtiger: sie dringen behutsam in die empfindliche Struktur der Materie ein. Manche Reisen führen nach innen, andere sprengen den natürlichen linearen Zeitverlauf. In jedem Fall aber bedeutet eine Reise einen unsicheren Zwiespalt zwischen dem Anfang und einem weit entfernten, im Grunde offenen Ziel. Die mentale Spur dieser zu Grunde liegenden Unbestimmtheit ist ein beinahe alchemistischer Prozess, die kanonische Engführung von Reisendem und Weg.
Die Faszination an der Reise in diesem Sinne und am Reisenden als jemand, der noch "unterwegs" ist bildet das grundlegende und eigentlich alles verbindende Element beim diesjährigen 9. Internationalen Festival der Straßenkünstler. Wir greifen dieses Thema auch in seiner weiter gefassten, symbolischen Bedeutung auf, und waren daher bestrebt, verschiedene Künstler einzuladen, die bewusst agieren, die sich engagieren, die mit Leidenschaft, Entschlossenheit und einer gewissen Unbeirrbarkeit an jenem Prozess teilnehmen, der sich nach Außen hin in der Redlichkeit ihres Schaffens ausdrückt - wenn technisches Können sich in hohem künstlerischen Niveau manifestiert.
Die Kraft eines solchen Künstlers kann statische Strukturen dauerhaft aufstören und zieht auch den zufälligen, überraschten Zuschauer in den Bannkreis der künstlerischen Aktion, unabhängig davon, an welchem Ort und auf welche Weise diese dargeboten wird. Bewusst haben wir uns daher nicht auf jene Bereiche beschränkt, die traditionellerweise mit der Straßenkunst in Verbindung gebracht werden. Wir sind der Meinung, dass der Straßenkünstler vor allem eine gewisse Wechselwirkung zwischen Künstler und Zuschauer anstrebt. Seine Botschaft ist frei von Künstlichkeit, und wird in mitunter gefährlicher Nähe zum Zuschauer, direkt auf der Straße vermittelt. Der Straßenkünstler ist mutig, stellt er doch sich und sein Werk öffentlich zur Schau.
Daher treten im Rahmen des Festivals sowohl klassische Musiker und an Theatern angestellte Schauspieler auf als auch Ensembles, die in Studiotheatern auftreten oder sich auf avantgardistische Open-Air-Aufführungen spezialisiert haben neben Künstlern, die auf oft hintersinnige Weise mit althergebrachten Konventionen spielen.
Reisen macht neugierig. Wir haben daher verschiedene Gruppen eingeladen, die aus der Tradition der Wandertruppen schöpfen: sie kommen aus Griechenland (HOROS Theatre Company), Mitteleuropa (Teatro Tatro), Italien (Due Mondi) bzw. knüpfen an das mittelalterliche Wandertheater an (Stella Polaris). Daneben präsentieren wir die ungarische Gruppe BUDA FOLK BAND, die mit ihren Expeditionen eine seit zwei Generationen bestehende Musiktradition fortsetzt, und uns in jene Regionen entführt, in denen die ungarische Volksmusik besonders stark vertreten ist, nämlich nach Transsilvanien. Die einzigartige Roma-Sängerin Mitsoura, die in Filmen von Tony Gatlif mitgewirkt hat, verbindet in ihrem neuen Projekt traditionelle Stücke mit ultramodernen Arrangements. Unter dem Namen MUSAFIR (Wanderer) tritt eine außergewöhnliche Gruppe indischer Musiker aus Rajastan auf.
Doch auch Stettin setzt künstlerische Spuren: Die polnisch- israelische Produktion Salto Mortale greift die Geschichte der Klaviere auf, die von russischen Soldaten einst am D±bskie-See zurückgelassen wurden, wo sie "bei Sonne und Regen, vergessen, nacheinander den krumm gewordenen Korpus aufsperrten und immer mehr verrottenden Särgen glichen..."
Willem Schulz ist unterwegs auf den Spuren der Heimatstadt seines Vaters. Er hat eigens für das Festival ein Stück komponiert, das im Rahmen seines Musik-Happenings "ORION-Stadtmusik" zur Aufführung kommen wird. Ein weiterer Auftritt, eine weitere Route, führt ebenfalls nach Stettin: das Streichorchester BALTIC NEOPOLIS ORCHESTRA ist ein Kammerorchester, das sich aus den besten Nachwuchsmusikern der Region zusammensetzt. Die Stücke des Teatro Do Mar aus Portugal, der AMT Theatre Company aus Russland und die Premiere der neuen Produktion des Theaters Kana "Wohin?!" nehmen den Zuschauer auf verschlungenen Wegen mit auf die Reise nach innen, auf die Suche nach dem Wesen der menschlichen Natur.
Ergänzt wird das Konzept der Reise von einem seinerseits wandernden Element des Festivals, das einen "Überfall" auf das Land-Kunstfestival in Strzelewo vorhat.
Es wird also klassisch und traditionell, volkstümlich und avantgardistisch und natürlich sehr international zugehen, wie es sich für eine erlebnisreiche Reise gehört.
Atavistische Gefühle oder auch eine besondere Ausstrahlung bewirken mitunter, dass wir den einen oder anderen Reisenden länger bei uns haben wollen. Es kann passieren, dass eine Begegnung so intensiv ist, dass sie die Trennung zwischen Gast und Gastgeber, zwischen Teilnehmer und Zuschauer aufhebt. Verschiedene Wege verflechten sich, die Zeit wandelt sich und das offen Sichtbare kämpft nicht länger um den Vorrang mit dem, was nur zu erahnen ist. Das kommt vor.